Duisburg/Berlin/Moskau,
4. November 2022 - Es
ist der wohl stillste Protest-Aufruf, den es in
Russland jemals gegeben hat. Anlässlich des Tages
der Einheit des Volkes hat die mit dem diesjährigen
Friedensnobelpreis gewürdigte russische
Menschenrechtsorganisation MEMORIAL ein Video (https://www.youtube.com/watch?v=LkguXfwdiqU)
veröffentlicht, in dem Gründungsmitglied Irina
Scherbakowa in einem Schweige-Statement zu sehen
ist. Die Menschenrechtlerin und Historikerin will
mit ihrer Sprachlosigkeit zeigen, dass es an diesem
Tag weniger auf ihre Worte ankommt, als vielmehr auf
die Taten derjenigen, die das Video betrachten.
Der einzige Protest in Russland, den Wladimir
Putin nicht verhindern kann Konkret sind die
Zuschauerinnen und Zuschauer des Videos eingeladen,
am Nationalfeiertag auf dem virtuellen Roten Platz
von Moskau gegen den russischen Angriffskrieg in der
Ukraine zu protestieren. Irina Scherbakowa ermutig
mit ihrem Schweigen Russinnen und Russen sowie
Menschen in aller Welt, sich auf
www.redsquareprotest.org am digitalen Kreml
positionieren lassen, während das Video im
Hintergrund weiterläuft. Kriegsgegnerinnen und
Kriegsgegner können auf diese Weise ihren Protest
ausdrücken, ohne dabei Angst vor Polizeigewalt haben
zu müssen. Am Ende des Videos sagt die gebürtige
Moskauerin und mittlerweile im Exil in Deutschland
lebende Scherbakowa wenigstens ein Wort: „Спасибо“ –
Danke!
Der Feiertag unterliegt zunehmend
der Propaganda Putins Der 4. November ist
seit 2005 ein gesetzlicher Feiertag in Russland.
Historisch bezieht sich der Tag auf einen
Volksaufstand aus dem Jahr 1612 gegen die
polnisch-litauischen Besatzer, die aus dem Moskauer
Kreml vertrieben wurden. Heute soll der Feiertag
nach Interpretation des russischen Regimes den
Zusammenhalt der russischen Gesellschaft
demonstrieren, vor allem in Abgrenzung gegenüber
angeblichen Bedrohungen von außen. Russlands
Präsident Wladimir Putin nutzt diesen Tag für
Propaganda-Zwecke.
„Zehntausende
demonstrieren bereits virtuell. Doch wir müssen mehr
werden, um ein Zeichen an das russische Regime zu
setzen.“ Der Ukraine-Krieg wird in Russland
jedoch zunehmend mit Skepsis verfolgt. Unter anderem
führte die Bekanntgabe der Teilmobilisierung der
russischen Streitkräfte im September zu Protesten
sowie zu Ausreisen von Wehrpflichtigen ins Ausland.
„Viele Menschen in Russland sind mit diesem Krieg
nicht einverstanden“, sagt Irina Scherbakowa am
Rande der Aufnahmen zu ihrem Schweige-Statement.
„Diesen Menschen müssen wir eine Möglichkeit bieten,
ihre Ablehnung in einem zunehmend diktatorisch
geführten Land auszudrücken. Zehntausende
demonstrieren bereits virtuell. Doch wir müssen mehr
werden, um ein Zeichen an das russische Regime zu
setzen.“ Verbunden sei dies mit der Hoffnung, dass
„wir irgendwann alle vereint in Fleisch und Blut auf
den Roten Platz gehen können“, so Scherbakowa
weiter.
MEMORIAL wird am 10. Dezember
der Friedensnobelpreis verliehen Die im Jahr
1989 gegründete Menschenrechtsorganisation MEMORIAL
ist im Dezember 2021 zwangsliquidiert worden. Das
Oberste Gericht Russlands hat die Dachorganisation
inklusive ihren Regionalorganisationen verboten. Den
Widrigkeiten zum Trotz engagieren sich jedoch nach
wie vor viele Menschen für die älteste
Menschenrechtsorganisation Russlands, die angesichts
ihres Engagements zur Bekämpfung des Militarismus
sowie ihrer Sammlung von Informationen über
politische Unterdrückung und
Menschenrechtsverletzungen mit dem
Friedensnobelpreis gewürdigt wird. Die Verleihung
findet am 10. Dezember in Oslo statt.
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